Ralf Heinrich Arning

Manche geben damit an, daß sie mit wenig Schlaf auskommen, ohne zu bedenken, daß ihre geistigen Leistungen vielleicht schlicht so gering sind, daß eine längere Erholung nicht nötig ist, oder daß sie mangels Schlaf keiner größeren geistigen Leistungen fähig sind. Die wissenschaftliche Unterfütterung mag nicht mehr haltbar sein, doch überlegenswert ist die Bemerkung Schopenhauers über den Schlaf allemal.

[Schopenhauer über den Schlaf]

[273 ...] In Hinsicht auf das Gehirn selbst erkläre ich mir die Nothwendigkeit des Schlafes näher durch eine Hypothese, welche zuerst aufgestellt zu seyn scheint in Neumanns Buch „Von den Krankheiten des Menschen“, 1834, Bd. 4, § 216. Es ist diese, daß die Nutrition des Gehirns, also die Erneuerung seiner Sub-[274]stanz aus dem Blute, während des Wachens nicht vor sich gehn kann; indem die so höchst eminente, organische Funktion des Erkennens und Denkens von der so niedrigen und materiellen der Nutrition gestört oder aufgehoben werden würde. Hieraus erklärt sich, daß der Schlaf nicht ein rein negativer Zustand, bloßes Pausiren der Gehirnthätigkeit, ist, sondern zugleich einen positiven Charakter zeigt. Dieser giebt sich schon dadurch kund, daß zwischen Schlaf und Wachen kein bloßer Unterschied des Grades, sondern eine feste Gränze ist, welche, sobald der Schlaf eintritt, sich durch Traumbilder ankündigt, die unsern dicht vorhergegangenen Gedanken völlig heterogen sind. Ein fernerer Beleg desselben ist, daß wann wir beängstigende Träume haben, wir vergeblich bemüht sind, zu schreien, oder Angriffe abzuwehren, oder den Schlaf abzuschütteln; so daß es ist, als ob das Bindeglied zwischen dem Gehirn und den motorischen Nerven, oder zwischen dem großen und kleinen Gehirn (als dem Regulator der Bewegungen) ausgehoben wäre: denn das Gehirn bleibt in seiner Isolation, und der Schlaf hält uns wie mit ehernen Klauen fest. Endlich ist der positive Charakter des Schlafes daran ersichtlich, daß ein gewisser Grad von Kraft zum Schlafen erfordert ist; weshalb zu große Ermüdung, wie auch natürliche Schwäche, uns verhindern ihn zu erfassen, capere somnum. Dies ist daraus zu erklären, daß der Nutritionsproceß eingeleitet werden muß, wenn Schlaf eintreten soll: das Gehirn muß gleichsam anbeißen. Auch das vermehrte Zuströmen des Blutes ins Gehirn, während des Schlafes, ist aus dem Nutritionsproceß erklärlich; wie auch die, weil sie dieses befördert, instinktmäßig angenommene Lage der über den Kopf zusammengelegten Arme; desgleichen, warum Kinder, so lange das Gehirn noch wächst, sehr vielen Schlafes bedürfen, im Greisenalter hingegen, wo eine gewisse Atrophie des Gehirns, wie aller Theile, eintritt, der Schlaf karg wird; endlich sogar, warum übermäßiger Schlaf eine gewisse Dumpfheit des Bewußtseyns bewirkt, nämlich in Folge einer einstweiligen Hypertrophie des Gehirns, welche, bei habituellem Uebermaaß des Schlafes, auch zu einer dauernden werden und Blödsinn erzeugen kann: ανιη και πολυς ὑπνος (noxae est etiam multus somnus). Od. 15, 394. — Das Bedürfniß des Schlafes steht demgemäß in geradem Verhältniß [275] zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewußtseyns. Solche Thiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z.B. Reptilien und Fische: wobei ich erinnere, daß der Winterschlaf fast nur dem Namen nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen bedürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quantität und Qualität nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich, daß er stets ein Langschläfer gewesen, einen großen Theil seines Lebens verschlafen habe und noch im hohem Alter acht bis neun Stunden in Einem Zuge schlafe (Liv. III, ch. 13). Auch von Cartesius wird uns berichtet, daß er viel geschlafen habe (Baillet, Vie de Descartes, 1693, p. 288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden ausgesetzt: aber damit auszukommen wurde ihm so schwer, daß er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hören, zur bestimmten Zeit zum Aufstehn zu zwingen (Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je vollkommener wach Einer ist, d.h. je klarer und aufgeweckter sein Bewußtsein, desto größer ist für ihn die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer und länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniß des Schlafes vermehren. Daß auch fortgesetzte Muskelanstrengung schläfrig macht, ist daraus zu erklären, daß bei dieser das Gehirn fortdauernd, mittelst der medulla oblongata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabilität wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft: die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat demnach ihren eigentlichen Sitz im Gehirn; eben wie der Schmerz, den eben diese Theile fühlen, eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es verhält sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln Nerven. Die Muskeln, welche nicht vom Gehirn aktuirt werden, z.B. die des Herzens, ermüden eben deshalb nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, daß man sowohl während, als nach großer Muskelanstrengung nicht scharf denken kann. Daß man im Sommer viel weniger Energie des Geistes hat, als im Winter, ist zum Theil [276] daraus erklärlich, daß man im Sommer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen hat, desto vollkommener wach, desto „aufgeweckter“ ist man nachher. Dies darf uns jedoch nicht verleiten, den Schlaf über die Gebühr zu verlängern; weil er alsdann an Intension, d.h. Tiefe und Festigkeit, verliert, was er an Extension gewinnt; wodurch er zum bloßen Zeitverlust wird. Dies meint auch Goethe, wenn er (im zweiten Theil des „Faust“) vom Morgenschlummer sagt: „Schlaf ist Schaale: wirf sie fort.“ — Ueberhaupt also bestätigt das Phänomen des Schlafes ganz vorzüglich, daß Bewußtseyn, Wahrnehmen, Erkennen, Denken, nichts Ursprüngliches in uns ist, sondern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den sie daher, je höher er getrieben worden, desto weniger ohne Unterbrechung fortführen kann. Es ist das Produkt, die Efflorescenz des cerebralen Nervensystems, welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organismus genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusammen, was in unserm dritten Buche gezeigt wird, daß das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je mehr es sich vom Wollen losgemacht und gesondert hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auffassung eintritt; eben wie ein Extrakt um so reiner ist, je mehr er sich von Dem, woraus er abgezogen worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert hat. — Den Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittelbarste Aeußerung das ganze organische Leben und zunächst das unermüdliche Herz ist.
Diese letzte Betrachtung ist schon dem Thema des folgenden Kapitels verwandt, zu dem sie daher den Uebergang macht: ihr gehört jedoch noch folgende Bemerkung an. Im magnetischen Somnambulismus verdoppelt sich das Bewußtseyn: zwei, jede in sich selbst zusammenhängende, von einander aber völlig geschiedene Erkenntnißreihen entstehn; das wachende Bewußtseyn weiß nichts vom somnambulen. Aber der Wille behält in beiden den selben Charakter und bleibt durchaus identisch: er äußert in beiden die selben Neigungen und Abneigungen. Denn die Funktion läßt sich verdoppeln, nicht das Wesen an sich.

Aus: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Buch, Kap. 19.
Zitiert nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hgg. v. Paul Deussen, Band 2, S. 273–276.
Der Text steht in der Quelle in Fraktur, lateinische und französische Wörter in Antiqua, hier durch Kursivschrift ersetzt. Das griechische Zitat enthält auch in der Quelle zwar den Spirtus asper, aber keine Akzentzeichen. Ältere Browser können mit der Darstellung Probleme haben. Das Zitat stammt aus Homers Odyssee und bedeutet: „auch reichlicher Schlaf ist Beschwerde“.
Der Hinweis auf Faust bezieht sich auf die Eingangsszene des zweiten Teils von Goethes Faust (V 4661).

Textauswahl: Ralf Heinrich Arning Erstveröffentlichung: 18.01.2010
Letzte Änderung: 18.01.2010
Inhaltsverzeichnis/Sitemap Technische Hinweise Rechtliche Hinweise Impressum/Kontakt Seitenanfang
Gestaltung und Inhalt: Ralf Heinrich Arning Erstveröffentlichung: 18.01.2010 Letzte Änderung: 17.11.2011
URL dieser Seite: http://www.ralf-heinrich-arning.de/matkiste/misch/schop/schopsch.html