Zum Hintergrund des Gedichts «Der Spaziergang» von Adolf Kußmaul
Der emeritierte Professor der Medizin Adolf Kußmaul (1822 – 1902) beschreibt zu Ende des 19. Jahrhunderts in seinen «Jugenderinnerungen eines alten Arztes», S. 354 bis 385, die Eindrücke und Erfahrungen, die er von Ende Juni bis Ende Dezember 1847 in der damals bedeutendsten deutschen Stadt, in Wien, gesammelt hatte. Er befand sich mit seinem Freund Bronner nach Abschluß des Studiums im Frühjahr 1846 und einer Assistenz an der Universität Heidelberg seit Mai ’47 auf einer fast einjährigen Studienreise. Diese diente nicht nur der kulturellen, politischen und landeskundlichen Horizonterweiterung in München, Tirol, Wien, Prag und anderswo, sondern wurde zu Hospitationen genutzt.
Wien hatte das Renommé, besonders innovativ zu sein. Die beiden jungen Akademiker waren bei Operationen anwesend, belegten Kurse bei namhaften Professoren und konnten sogar einige Wochen als Ärzte praktizieren. Kußmaul skizziert die besonderen Leistungen der «jungen Wiener Schule» und beschreibt ihre Stärken und Schwächen. Besonders geht er auf die Mediziner Rokitansky, Skoda, Semmelweis und Hebra ein und beschränkt sich nicht auf das Medizinhistorische, sondern erwähnt auch politische und menschliche Stärken und Schwächen. Er hat bewußt die Probleme wahrgenommen, die sich aus einer Schulbildung ergeben, wie sie damals in Wien geschah. Die Leistungen haben zwar über Wien hinaus, die Medizin bereichert, aber es war eben auch das Wiener Milieu des Protektionismus, das Unfähige nach oben kommen ließ, und die arrogante Ignoranz eines Establishments, die Semmelweis die Anerkennung dafür verweigerte, daß dieser der Ursache des Kindbettfiebers auf die Spur gekommen war. Aus der Schule sind zwar etliche hervorragende Ärzte hervorgegangen, aber die Schüler neigten doch dazu, den kritischen Ansatz ihrer Lehrer zum alleinigen Prinzip zu machen, wodurch die Anerkennung von Leistungen anderer verhindert wurde.
In Wien war dies der Skeptizismus. Einerseits wurden damit voreilige Schlüsse in der Diagnose so verhindert und verbesserte diagnostische Verfahren und Interpretationen der Ergebnisse entwickelt, andererseits hat die Diagnostik eine solche Bedeutung erlangt, daß die Therapie zur Nebensache wurde.
Kußmaul hat bis Mitte der 1850er Jahre Gedichte geschrieben. Zusammen mit Ludwig Eichrodt (1827 – 1892), einem Juristen, Dichter und Herausgeber, hat er die Figur des Gottlieb Biedermaier erfunden. Einige der satirisch-humoristischen Gedichte, die 1855 bis 1857 unter diesem Namen in den Münchner Fliegenden Blättern veröffentlicht wurden, stammen von ihm.
Kußmaul hat seinen Eindruck von der Geisteshaltung in der Wiener Schule in Verse gefaßt, die hier wiedergegeben werden. Das Gedicht ist nicht datiert, aber den vorangehenden Ausführungen ist zu entnehmen, daß es noch während des Wien-Aufenthaltes entstand.
Der Text folgt der ersten Auflage:
Adolf Kußmaul, Jugenderinnerungen eines alten Arztes. Mit dem Porträt des Verfassers nach einem Gemälde von Franz Lenbach. Stuttgart: Bonz 1899.
Einige jüngere Auflagen, z. B. die 19. aus dem Verlag J. F. Lehmann von 1960, enthalten das Gedicht nicht und wurden auch um etliche andere historisch interessante Passagen gekürzt. Selbst Kußmauls Bericht darüber, wie er mit Eichrodt das «Buch Biedermaier» entwarf, S. 485–488, fiel dem Desinteresse des Herausgebers zum Opfer. Wenn man sich das Buch ausleiht oder antiquarisch zulegt, sollte man also darauf achten, eine der frühen Ausgaben zu bekommen.
Worterklärungen
Vomieren: Erbrechen
Ipeka: gemeint ist Psychotria ipecuanha (Brechwurz), die aber nicht zur Familie der Veilchen gehört
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